Rechtsprechung

RS0123136

Im Rahmen des ärztlichen Behandlungsvertrags schuldet der Arzt Diagnostik, Aufklärung und Beratung nach den aktuell anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst. Maßgeblich ist dafür der aktuelle anerkannte Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft. Voraussetzung für eine sachgerechte Behandlung ist die diagnostische Abklärung der Beschwerden durch Erhebung der erforderlichen Befunde und deren fachgerechte Auswertung. Zum zumutbaren Erkenntnisstand eines Facharztes zählt auch der Inhalt des zu einem Verhütungsmittel vom Hersteller ausgelieferten und Warnhinweise enthaltenden Beipackzettels. Auch bei der Erstellung einer Diagnose ist entscheidend, wie ein verantwortlicher Arzt in der konkreten Situation vorgegangen wäre; weitergehende Untersuchungen können dort nicht verlangt werden, wo nach den Umständen des konkreten Falls keine Anhaltspunkte oder konkrete Verdachtsmomente für eine durch eine solche Untersuchung feststellbare Erkrankung oder Verletzung vorliegen. Die pränatale Diagnostik dient der Ermittlung von Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des ungeborenen Kindes und soll damit auch der Mutter (den Eltern) im Falle, dass dabei drohende schwerwiegende Behinderungen des Kindes erkannt werden, die sachgerechte Entscheidung über einen gesetzlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch ermöglichen. Wird beim Organscreening im Rahmen pränataler Diagnostik ein Hinweis auf einen beginnenden Wasserkopf als Folge einer Meningomyelozele nicht entdeckt und unterbleibt eine Wiederbestellung der Schwangeren, obwohl diagnoserelevante Strukturen nicht einsehbar waren, dann liegt ein ärztlicher Kunstfehler vor. Der Arzt schuldet auch eine umfassende neutrale Beratung über die Untersuchungsmethoden, die zur Feststellung einer Trisomie 21 geeignet sind, samt deren Vor- und Nachteilen, sodass der Frau eine sachgerechte Entscheidung über die Art der Abklärung und einen allfälligen, gesetzlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch ermöglicht wird. Hätten sich die Eltern bei fachgerechter Aufklärung über die zu erwartende schwere Behinderung des Kindes und einen deshalb gesetzlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch zu Letzterem entschlossen, dann haftet der Arzt (der Rechtsträger) für den gesamten Unterhaltsaufwand für das behinderte Kind.

Rechtssatz:

a) Im Rahmen des ärztlichen Behandlungsvertrags schuldet der Arzt Diagnostik, Aufklärung und Beratung nach den aktuell anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst. Die pränatale Diagnostik dient nicht zuletzt der Ermittlung von Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des ungeborenen Kindes und soll damit auch der Mutter (den Eltern) im Falle, dass dabei drohende schwerwiegende Behinderungen des Kindes erkannt werden, die sachgerechte Entscheidung über einen gesetzlich zulässigen, auf § 97 Abs 1 Z 2 zweiter Fall StGB beruhenden Schwangerschaftsabbruch ermöglichen. Dass in einem solchen Fall die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch auch wegen der erheblichen finanziellen Aufwendungen für ein behindertes Kind erfolgen kann, ist objektiv voraussehbar, weshalb auch die finanziellen Interessen der Mutter (der Eltern) noch vom Schutzzweck des ärztlichen Behandlungsvertrags umfasst sind.b) Wird beim Organscreening im Rahmen pränataler Diagnostik ein Hinweis auf einen beginnenden Wasserkopf als Folge einer Meningomyelozele nicht entdeckt und unterbleibt eine Wiederbestellung der Schwangeren, obwohl diagnoserelevante Strukturen nicht einsehbar waren, dann liegt ein ärztlicher Kunstfehler vor. Hätten sich die Eltern bei fachgerechter Aufklärung über die zu erwartende schwere Behinderung des Kindes und einen deshalb gesetzlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch gemäß § 97 Abs 1 Z 2 zweiter Fall StGB zu Letzterem entschlossen, haftet der Arzt (der Rechtsträger) für den gesamten Unterhaltsaufwand für das behinderte Kind. In einem solchen Fall stünden sowohl die Ablehnung eines Schadenersatzanspruchs mit der Behauptung, es liege kein Schaden im Rechtssinn vor, als auch der bloße Zuspruch nur des behinderungsbedingten Unterhaltsmehraufwands mit den Grundsätzen des österreichischen Schadenersatzrechts nicht im Einklang.

Gericht:
OGH
Geschäftszahl:
5Ob148/07m; 4Ob87/08k; 5Ob231/10x; 10Ob84/11t; 7Ob214/11p; 9Ob52/12f; 4Ob241/12p; 9Ob32/12i; 8Ob54/14w; 9Ob45/14d; 7Ob143/14a; 9Ob48/15x; 9Ob79/16g; 1Ob138/16z; 1Ob244/16p; 7Ob88/17t; 6Ob233/17h
Entscheidung:
11.12.2007
Norm:
ABGB §1293
ABGB §1295 Abs1 Ia3f
ABGB §1295 Abs1 Ia9
ABGB §1295 Abs1 IIc
ABGB §1295 Abs1 IIf7f
ABGB §1295 Abs1 IIf9
ABGB §1299 B
StGB §97 Abs1 Z2

Entscheidungstexte






7 Ob 214/11p 7 Ob 214/11p Entscheidungstext OGH 27.02.2012 7 Ob 214/11p Auch; nur: Im Rahmen des ärztlichen Behandlungsvertrags schuldet der Arzt Diagnostik, Aufklärung und Beratung nach den aktuell anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst. Die pränatale Diagnostik dient nicht zuletzt der Ermittlung von Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des ungeborenen Kindes und soll damit auch der Mutter (den Eltern) im Falle, dass dabei drohende schwerwiegende Behinderungen des Kindes erkannt werden, die sachgerechte Entscheidung über einen gesetzlich zulässigen, auf § 97 Abs 1 Z 2 zweiter Fall StGB beruhenden Schwangerschaftsabbruch ermöglichen. Dass in einem solchen Fall die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch auch wegen der erheblichen finanziellen Aufwendungen für ein behindertes Kind erfolgen kann, ist objektiv voraussehbar, weshalb auch die finanziellen Interessen der Mutter (der Eltern) noch vom Schutzzweck des ärztlichen Behandlungsvertrags umfasst sind. (T3) Beisatz: Hier: Der Beklagte schuldete nicht die Durchführung einer Fruchtwasser‑/Plazentapunktion. Ob eine solche Untersuchung vorgenommen werden soll, muss die Frau selbst entscheiden. Er schuldete aber eine umfassende neutrale Beratung über die Untersuchungsmethoden, die zur Feststellung einer Trisomie 21 geeignet sind, samt deren Vor- und Nachteilen, sodass der Frau eine sachgerechte Entscheidung über die Art der Abklärung und einen allfälligen, gesetzlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch ermöglicht wird. (T4) Beisatz: Es besteht kein Anlass, die §§ 1301, 1304 ABGB, die nicht unmittelbar zum Tragen kommen können, analog schlicht zum Zweck der Anspruchskürzung heranzuziehen. (T5)